– Flucht aus der Ukraine
„Wir haben alles verloren – nur nicht einander“
Ihre Heimatstadt Bachmut liegt in Trümmern, doch Familie Sytnichenko gibt nicht auf. Die Angebote des JRS Rumänien helfen Kindern wie Erwachsenen beim Neustart.
Familie Sytnichenko stammt aus Bachmut in der Region Donezk – einer Stadt, die vor zwei Jahren traurige Schlagzeilen machte, einer Stadt, die durch den Krieg fast vollständig zerstört wurde. Doch schon lange vor 2022 wussten die Sytnichenkos, was Krieg bedeutet...
Krieg wird Alltag
„Wir hatten den Krieg bereits 2014 erlebt“, sagt Vater Oleh Sytnichenko. „Damals hatte Russland bereits seine Angriffe gegen die östlichen Regionen der Ukraine gestartet. Wir sahen Panzer, bewaffnete Menschen, hörten Explosionen und Artilleriefeuer. Wir lebten zwei Monate unter Besatzung in einer Stadt, die von Behörden und Polizei verlassen worden war. Jetzt wird mir klar, dass das nur eine ‚leichte Version‘ des Krieges war. Damals arbeitete ich für ein internationales Unternehmen als Bergbauingenieur. Zuvor hatte ich Salz abgebaut. Auch meine Frau war im staatlichen Salz-Unternehmen ‚Artemsil’ angestellt.“
In der ersten Kriegsphase blieb die Familie im besetzten Bachmut und konnte ihre Arbeitsplätze behalten. Damals hatten die Sytnichenkos nur ein Kind – den achtjährigen Yurii. Wenige Monate später wurde die Stadt befreit und stand wieder unter ukrainischer Verwaltung. Doch die Frontlinie war weiterhin nur 30 Kilometer entfernt, und die Explosionen waren ständig zu vernehmen. Bachmut selbst wart zunächst weniger betroffen war als umliegende Ortschaften, und zumindest eine Zeit lang schien die Normalität zurückzukehren.
2019 wurde ihre Tochter Anna geboren, 2021 folgte Maria.



Das Wunder blieb aus
„Ich erinnere mich, dass ich wenige Tage vor Beginn des Krieges im Februar 2022 die Nachrichten sah und eine Vorahnung hatte – ein großer Krieg steht bevor“, erzählt sich Oleh. „Aber ich verdrängte diese Gedanken immer wieder. Bis zum 24. Februar. Anfangs war es in Bachmut relativ ruhig, doch Artilleriebeschuss und Explosionen waren allgegenwärtig. Es wurde eine Ausgangssperre verhängt, und ab 16 Uhr durfte niemand mehr nach draußen oder Licht einschalten.“
„Ich erinnere mich daran, wie ich unsere jüngste Tochter Maria in völliger Dunkelheit fütterte“, berichtet Nataliia Sytnichenko. „Sie war gerade einmal fünf Monate alt, als der Krieg ausbrach. Ich hatte solche Angst, auch nur eine Taschenlampe einzuschalten, aus Furcht, dass jedes Licht uns zum Ziel machen könnte.“
Am zehnten Tag nach den Angriffen wurde Oleh klar – dieser Krieg war nicht wie 2014. Er würde viel länger andauern. Er beschloss, seine Familie in Sicherheit zu bringen. Anfangs wollte Nataliia nicht weg, in der Hoffnung, dass alles bald vorbei sein würde. Doch es geschah kein Wunder. So verließ die ganze Familie – zwei Eltern, drei Kinder und ihr Hund – Anfang März ihr Zuhause.
„Wir waren fünf Personen, und das Auto war klein. Wir packten nur das Nötigste ein. Die Hälfte des Kofferraums war bereits mit dem Kinderwagen und Dingen für die Kleinen gefüllt. Alles andere mussten wir zurücklassen“, erinnert sich Nataliia. Tagsüber legten sie 300 bis 400 Kilometer zurück und reisten von Stadt zu Stadt. Sie konnten nur bei Tageslicht fahren, da die Nächte intensiven Beschuss brachten, bei dem russische Truppen gezielt zivile Fahrzeuge angriffen.
Nichts wie weg
„Wir hatten kein festes Ziel“, sagt Oleh. „Polen oder Rumänien? Die Priorität war, so schnell wie möglich die Grenze zu überqueren, um die Kinder in Sicherheit zu bringen. Nach Polen zu gelangen, bedeutete 300 km weiter durch die Ukraine zu fahren, also entschieden wir uns für Rumänien – es war näher. Am 11. März erreichten wir die Grenze. Es gab kaum eine Warteschlange, doch die Grenzbeamten erzählten uns, dass eine Woche zuvor die Schlange durch drei benachbarte Dörfer reichte.“ Zunächst blieb die Familie in einer kleinen Stadt nahe der Grenze, doch bald beschlossen sie, nach Bukarest zu ziehen, wo sie Bekannte hatten.
„Die größte Herausforderung war die Sprache. Wir verstanden nichts“, erinnert sich Nataliia. „Zuerst lebten wir in einer Unterkunft eines Flüchtlingsprogramms. Später mussten wir umziehen, um mehr Platz für die Kinder zu finden. Anfangs waren die Leute in Rumänien sehr hilfsbereit. Sie boten uns Unterstützung an und gaben den Kindern Spielzeug. Sie sind zweifellos freundliche Menschen und zeigten viel Verständnis.“
Sprachbarriere und andere Hindernisse
Über einen Freund erfuhren die Sytnichenkos von den Angeboten des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (JRS). Er berichtete, dass der JRS einen Kindergarten für junge Ukrainerinnen und Ukrainer eröffnet habe, um ihnen zu helfen, sich auf die Schule und die rumänische Gesellschaft vorzubereiten. Im April 2023 hatte Anna dort einen Platz. „Wir hatten große Sorgen, wie sie sich anpassen würde“, sagt Oleh. „Schließlich war sie noch nie in einem Kindergarten gewesen. Aber nach einer Woche waren unsere Ängste verflogen. Am ersten Wochenende weinte Anna – sie wollte zurück in den Kindergarten, weil sie ihn so sehr mochte.“ Bald folgte auch ihre jüngste Tochter Maria. Da der Bedarf an Betreuungsplätzen für Kleinkinder groß war, eröffnete der JRS Rumänien eine Kindergartengruppe für unter Dreijährige. Warum nicht ein rumänischer Kindergarten? „Erstens ist es fast unmöglich, einen Platz zu bekommen – sie sind überfüllt“, erklärt Nataliia. „Zweitens haben viele unserer Freunde berichtet, dass ukrainische Kinder wegen der Sprachbarriere oft Probleme haben. Sie verstehen die Anweisungen der Erzieherinnen nicht immer oder können sich nicht mit anderen Kindern verständigen.“
„Für Kinder bedeutet das zusätzlichen Stress“, ergänzt Oleh. „Und sie haben schon so viel durchgemacht. Viele ukrainische Kinder bekamen Angst, einen Kindergarten zu besuchen. Doch beim JRS lernen unsere Töchter Rumänisch in einem geschützten Umfeld. Das wird ihnen später helfen. Manchmal korrigieren sie sogar unsere Aussprache!“
„Ich möchte nur nicht, dass sie Ukrainisch vergessen“, sagt Nataliia. „Denn wenn alle ukrainischen Kinder ihre Sprache vergessen, was bleibt dann von der Ukraine? Dank des Kindergartens konnte ich einen Teilzeitjob als Küchenhilfe finden. Unsere Töchter bekommen im Kindergarten kostenloses Essen. In einem rumänischen Kindergarten müssten wir Gebühren zahlen, die fast die Hälfte unserer Miete ausmachen. Wie sollten wir das schaffen? Wie sollten wir überleben?“
„Unser Platz ist jetzt hier“
Neben dem Kindergartenangebot für ihre Töchter hat Oleh beim JRS Sprachkurse in Englisch und Rumänisch abgeschlossen. Nataliia hat einen Rumänischkurs absolviert und nimmt regelmäßig psychologische Unterstützung in Anspruch. Ihre Töchter besuchen zudem Tanz- und Malkurse beim JRS.
„Was die Zukunft betrifft“, sagt Oleh, „ist nur eines sicher – wir haben kein Zuhause mehr. Unser Haus ist zerstört, wie die meisten Gebäude unserer Stadt. Dennoch träumen wir davon, in die Ukraine zurückzukehren, wenn es wieder sicher ist. Wir wollen einfach nur nach Hause. Aber wohin? Wir haben alles verloren – nur nicht einander. Für jetzt ist unser Platz hier, in Bukarest. Nicht nur, um in der Nähe der Ukraine zu sein – sondern in der Nähe des JRS-Kindergartens.“
Nach der Flucht: Ankommen, Fuß fassen
Selbst wenn der Krieg in der Ukraine enden sollte, können viele Geflüchtete nicht in ihre zerbombten Heimatorte zurückkehren. Nach den Nothilfe-Maßnahmen der ersten Kriegsmonate unterstützen wir unsere Partnerorganisationen in Osteuropa jetzt bei der Integration der Vetriebenen in den Aufnahmeländern. Es geht um Wohnraum, Jobs und Sprachkurse